Angststörungen sind eine Gruppe psychiatrischer Erkrankungen, die sich durchübermäßige Furcht und Sorgen auszeichnen und im Alter genauso auftreten könnenwie in jüngeren Jahren. Zu den häufigsten Formen zählen generalisierteAngststörung, Panikstörung, soziale Phobie und spezifische Phobien. Studienzeigen, dass weltweit etwa 15–20 % älterer Menschen an einerbehandlungsbedürftigen Angststörung leiden1. Besonders Frauen sind häufigerbetroffen als Männer. Ältere Patient:innen berichten oft von langjährigenAngstzuständen, die sich phasenweise verstärken, und von hoher Komorbidität mitDepressionen und somatischen Erkrankungen. Ohne adäquate Behandlung könnenAngststörungen zu Rückzug, sozialer Isolation und körperlichen Folgeproblemenführen (z. B. Schlaf- und Essstörungen) und die Gesamtprognoseverschlechtern2,3.
Erfahrungsberichte von PatientInnen
Symptome im höheren Alter
Im Alter äußern sich Angststörungen oft atypisch. Neben denklassischen Symptomen wie Nervosität, Herzklopfen, Schwindel oder Atemnotberichten ältere Menschen häufiger über diffuse Beschwerden: Schwindelgefühleoder Sturzangst („Sturz-Angst“) sind typisch2. Ein Sturz oder ein anderestraumatisches Erlebnis kann ausgeprägte Phobien auslösen, die Betroffeneregelrecht lähmen – sie meiden dann dunkle oder unebene Wege, verlassen dasHaus kaum noch und ziehen sich sozial zurück. Häufig entstehen infolge der AngstRückzugstendenzen, Bewegungsarmut und damit sekundäre körperlicheVerschlechterungen. Daneben sind Schlaflosigkeit, Muskelverspannungen,Konzentrationsprobleme und anhaltende Unruhe typisch. Da ältere Menschen oftmehrere Erkrankungen haben, kann Angst auch hinter unerklärlichen Schmerzenoder Schlafproblemen stecken und muss aktiv abgefragt werden.
Therapieoptionen gemäß Leitlinie
Die Deutsche S3-Leitlinie empfiehlt ein kombiniertes Therapieprinzip. Als erste Wahl gilt eine kognitive Verhaltenstherapie (KVT),da sie die besten Langzeiteffekte zeigt3. Bei ausgeprägter Angst oder wenn Psychotherapie nicht verfügbar ist, kommen als Medikamente vor allem selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs) zum Einsatz. Diese Antidepressiva lindern Angstgefühle im Mittel über 6–12 Monate. Kurzfristig können bei panischen Attacken auch gering dosierte Benzodiazepine helfen; sie sind jedoch bei Älteren wegen Sturzrisiko sehr vorsichtig und nur akutindiziert. Auch andere Verfahren (z. B. tiefenpsychologisch fundierte Therapie) können ergänzend erwogen werden. Wichtig ist ein individueller Therapieplan, der Wirksamkeit, Nebenwirkungen und Präferenzen berücksichtigt. Regelmäßige Verlaufskontrollen stellen sicher, dass Medikamente angepasst und Therapieanpassungen vorgenommen werden.
Einsatz von Medizinalcannabis zur komplementären Unterstützung
Medizinisches Cannabis wird als ergänzende Option betrachtet, wenn herkömmliche Therapien nicht ausreichend wirken oder starke Nebenwirkungen haben. Cannabinoide können bei manchen Betroffenen Angst lindern und entspannten Schlaf fördern. Dabei ist das Prinzip „Start low – go slow“ zentral: Die Therapie beginnt mit sehr niedriger Dosis (beispielsweise < 2,5mg THC) und wird schrittweise erhöht, um den idealen Effekt zu finden. Verordnete Produkte sind meist THC/CBD-Kombinationen (z. B. Öl mit moderatem THC-Anteil und zusätzlichem CBD) oder reine CBD-Präparate. Auch das Inhalieren getrockneter Blüten mit geeigneten Medizinprodukten zur Inhalation wird gelegentlich genutzt, wegen schnelleren Wirkungseintritts aber insbesondere bei begleitenden Schmerzen. In jedem Fall sollte engmaschig begonnen werden, z. B. mit 1 Tropfen abends, langsam steigernd bis die gewünschte, nebenwirkungsarme bzw. -freie Dosis erreicht wurde. Es liegen wissenschaftliche Daten vor, dass Cannabis besonders in niedrigen THC-Dosen und mit gleich hohem CBD-Anteil Ängste mildern kann4. Wichtig ist, die Wirkung auf Angst und Schlaf individuell zu beobachten und körperliche Parameter (Herzfrequenz, Blutdruck) zu kontrollieren, da THC bei höheren Dosen Angst auch verstärken kann.
Rolle der Terpene und Entourage-Effekt:
Pflanzliche Cannabisprodukte enthalten neben THC/CBD auch aromatische Terpene(z. B. Linalool, Myrcen, Limonen). Man nimmt an, dass diese Pflanzenstoffegemeinsam mit Cannabinoiden wirken („Entourage-Effekt“). Beispielsweise sindTerpene wie Linalool (Lavendelgeruch) und Beta-Caryophyllen für beruhigendeEffekte bekannt5. In medizinischen Präparaten können Terpene das Gesamtprofilbeeinflussen und zu Synergien führen. Dies wird diskutiert, ist aberwissenschaftlich noch nicht eindeutig belegt. Praktisch bedeutet es, dassunterschiedliche Sorten und Extrakte verschiedene Terpen-Profile haben können.Ärzt:innen wählen bei Angst oft Präparate mit eher beruhigenden Begleitstoffenund setzen lieber weniger aktivierende Sorten ein.
Vorteile für Lebensqualität und Autonomie:
Viele ältere Menschen empfinden Cannabis als hilfreich zur Reduktion von Ängsten und zur Förderung von Entspannung. Eine verbesserte Angstkontrolle kann erheblich zur Lebensqualität beitragen: Betroffene fühlen sich sicherer, können soziale Kontakte wieder aufnehmen und bewegen sich freier, was zu mehr Unabhängigkeit führt. Studien berichten über bessere Stimmung, weniger Unruhe und ein gesteigertes Wohlbefinden. Besserer Schlaf und weniger chronische Anspannung bedeuten mehr Energie am Tag. Insgesamt kann durch Symptomlinderung die emotionale Belastung abnehmen und die Selbstbestimmung steigen, da Patient:innen aktiv an der Dosisanpassung mitwirken können. Die Cannabisgabe kann außerdem die Motivation sowie Therapieerfolg erhöhen, an anderen Therapien (Physio, Ergo) teilzunehmen.
Vorteile für Pflege und Ärzt:innen
Medizinisches Cannabis kann helfen, die Behandlungsstrategie bei Angststörungen zu vereinfachen. Indem es Schlaflosigkeit, Anspannung oder Schmerzen lindert kann es den Bedarf an Polypharmazie verringern: Patient:innen benötigen womöglich weniger Beruhigungs- oder Schlafmittel. Weniger Medikamente bedeutet oft bessere Verträglichkeit und Compliance. Das Absetzen potenziell problematischer Substanzen (Benzodiazepine, Opioide) wird bei einigen Patient:innen möglich. Untersuchungen zeigen, dass Cannabis bei chronischen Schmerzzuständen vergleichbare Effekte wie Opioide hat und weniger Nebenwirkungen verursacht7. Darüber hinaus berichten Ärzt:innen und Pflegekräfte, dass Patient:innen unter Cannabis oft gelassener und therapietreuer sind, was Behandlung und Pflege erleichtert und mehr Zeit für qualitative Aufgaben mit den Patient:innen lässt. Der Einsatz von Cannabis kann so zu einem ganzheitlicheren, patientenzentrierten Therapieansatz beitragen.
Risiken
Bei älteren Patient:innen mit Angst müssen mögliche Nebenwirkungen von Cannabis besonders beachtet werden. Zu Beginn kann es zu Müdigkeit, Schwindel oder Mundtrockenheit kommen. Wichtig ist die engmaschige Überwachung von kognitiven und motorischen Funktionen, denn Cannabis kann vorübergehend die Aufmerksamkeit oder das Reaktionsvermögen beeinflussen und so Sturzgefahr erhöhen. Eine Dosissteigerung sollte nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen. Da THC Herzfrequenz und Blutdruck beeinflusst, sollten Herzrhythmus und Kreislauf ebenfalls kontrolliert werden. Bei starken Ängsten kann paradoxerweise auch eine Zunahme von Angstgefühlen (Paranoia) auftreten, weshalb zunächst kleine Dosen getestet werden müssen, bevor die Therapie voll ausgeschöpft werden kann. Ebenfalls ist die Interaktion mit bestehenden Medikamenten (z. B. Antidepressiva) zuprüfen6. Insgesamt gilt: Patient:innen sollten über mögliche Risiken aufgeklärt werden und regelmäßige, zu anfangs engmaschigen Termine zum Monitoring ärztlich vorgestellt werden.
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Quellen
Quellverzeichnis
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Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). (2014). Vorstellung der neuen Behandlungsleitlinie – S3-Leitlinie Angststörungen. Unimedizin Mainz. Abgerufen am 29. April 2025 von https://www.unimedizin-mainz.de/…
Beedham, W., Sbai, M., Allison, I., Coary, R., & Shipway, D. (2020). Cannabinoids in the older person: A literature review. Geriatrics (Basel), 5(1), 2. https://doi.org/10.3390/geriatrics5010002
Russo, E. B. (2011). Taming THC: Potential cannabis synergy and phytocannabinoid–terpenoid entourage effects. British Journal of Pharmacology, 163(7), 1344–1364. https://doi.org/10.1111/j.1476-5381.2011.01238.x
Ho, J. J. Y., Goh, C., Leong, C. S. A., Ng, K. Y., & Bakhtiar, A. (2024). Evaluation of potential drug–drug interactions with medical cannabis. Clinical and Translational Science, 17(5), e13812. https://doi.org/10.1111/cts.13812
Cannabis for medical use versus opioids for chronic non-cancer pain: A systematic review and network meta-analysis of randomised clinical trials. (2023). BMJ Open, e068182. https://doi.org/10.1136/bmjopen-2022-068182